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DER STUBENHOCKER als  PDF-Datei


EFFES SOZIOLOGISCHE SCHRIFTEN
HEFT 3

DER
STUBENHOCKER


EINE TYPOLOGISCHE BETRACHTUNG
VON
RAINER EFFENBERG

STATT EINES VORWORTS
Es gibt der Schimpfwörter ja viele. Zum Beispiel eines, das mit „A“ anfängt und mit „h“ aufhört. Es gibt aber auch mildere Schimpfwörter. Bei denen schwingt oft sogar ein Rest von Bewunderung mit. Zum Beispiel beim „Sauhund“. Aber wie verhält es sich beim „Stubenhocker“? Ist dieser in der Hierarchie der Beleidigungen nicht noch viel weiter unten angesiedelt als derjenige mit dem „A“ am Anfang und dem „h“ am Ende? Und warum ist er das? Läßt sich dies wissenschaftlich erklären? Fragen über Fragen!

STATT EINER EINLEITUNG
Objektiv gesehen ist der Stubenhocker ein Individuum, das höchstens einer Fliege etwas zuleide tut. Menschen gegenüber ist er ausgesprochen friedlich! Wie, und vor allem wo sollte es da auch Probleme geben? Niemand mit gesundem Menschenverstand käme auf die Idee, einen Stubenhocker zu besuchen. Der Stubenhocker dagegen hat per se gesunden Menschenverstand, deshalb hockt er ja Stube!

DER AUTOR
hat früher die ganze Welt bereist – von Süderlügum bis Norderviöl, von Westerhever bis zum Osterende. Dort, also im Osterende, stieß er voller Begeisterung auf die Schriften von Immanuel Kant, dem großen deutschen Philosophen, der aus Königsberg nie herausgekommen ist. Damals beschloß der Autor, es wie Kant zu machen und zukünftig drinnen hocken zu bleiben, um dort auf höhere geistige Eingebungen zu warten. Er hockt nun allerdings schon reichlich lange drinnen und dies hoffnungslos vergeblich! Um sich endlich über sich selbst und sein Stubenhockertum Klarheit zu verschaffen, geht er zurück in seine Kindheit und verfasst diese tiefenpsychologisch-soziologische Schrift.




ONKEL LEO

„Bua, jetzt gang halt amol naus in'd frische Luft. Immer hocksch drinna. Wend so weitermachsch, wirsch no a Schtuba-Hocker wie d'r Onkel Leo.“

Als braves Kind im bayerischen Regierungsbezirk Schwaben befolgte ich widerstrebend Muttis Anweisung, balancierte vorsichtig das Schachbrett samt Figuren zum Weiterspielen durch den Hausflur und saß glücklich draußen in der frischen Luft auf der Hinterhoftreppe, denn wie Onkel Leo wollte ich nicht werden. Keinesfalls! Onkel Leo war nämlich ein Stubenhocker, und das war etwas sehr Schlimmes. Aber Onkel Leo war nicht nur ein Stubenhocker, er hatte noch viel mehr schlechte Eigenschaften: er war ein Spieler, denn er spielte Schach und Karten, er rauchte Zigarren und nahm alkoholische Getränke zu sich, und als ob das nicht reichte, bekannte er sich auch noch zur Sozialdemokratie. Das Allerschlimmste jedoch war: er sprach hochdeutsch, denn er war ein Preuße. Zwar verstand ich von all diesen schlimmen Dingen damals noch nichts, jedoch saugte ich schon mit der bayerischen Muttermilch des Teufels Wörterbuch ein: Stubenhocker, Spieler, SPD, Säufer, Saupreiss. Und alle fünf „S“ waren in einer Person vereinigt, nämlich in Onkel Leo. Nein, so wie Onkel Leo wollte ich nicht werden. Auf keinen Fall!

Da saß ich nun auf der Hinterhoftreppe und holte mein geheimgehaltenes Buch heraus. Es hieß: „Leitfaden des Schachspiels für Anfänger“. Onkel Leo hatte es mir vor ein paar Tagen augenblinzelnd zugeschoben, und das war für mich Grund genug, es geheimzuhalten. Das Brett und die Figuren hatte ich von ihm zwei Wochen zuvor zum Geburtstag geschenkt bekommen. Als braves Kind spürte ich instinktiv die Bedenken meiner Eltern, als Mutti sagte: „Noi woisch Leo, a Schpieler wie du soll unser Sohn id werda!“ Ich hatte ebenfalls Bedenken, denn ich war furchtbar enttäuscht: diese blöden Figuren hatten mit der geheimnisvollen Welt des Kartenspiels und der geheimnisvollen Welt von Onkel Leo nichts, aber auch gar nichts gemein. Überhaupt schien mir Onkel Leo gar nicht mehr so geheimnisvoll zu sein. Von ihm hätte ich mehr erwartet! Ich dachte: er tut schlimme Sachen und er ist sogar Soziokrat, aber trotzdem ist er zu feige, mir etwas Verbotenes zu schenken: ein richtiges Kartenspiel, oder wenigstens ein Heft von Micky-Mouse oder Donald Duck. Wahrscheinlich hat Onkel Leo Angst vor Papi. Schöner Onkel! Diese blöden Figuren und diesen blöden Leitfaden kann er wiederhaben.

Immer noch saß ich auf der Hinterhoftreppe und war sauer auf die Läufer und die Springer und die Bauern und auf Onkel Leo, und beschloß, Onkel Leo beim nächsten Kaffeetrinken zur Rede zu stellen. Denn ich hatte mir ein „richtiges“ Spiel zum Geburtstag gewünscht, ein „echtes“ Kartenspiel, eines, das ER immer spielte. Ich kannte nur das „Tierquartett“ und das „Autoquartett“, aber die verbotenen Karten von Onkel Leo sahen viel besser aus, und genau solche wollte ich haben! Wütend packte ich Figuren, Brett und Leitfaden wieder ein, verließ die frische Luft, setzte mich zerknirscht in die Stube, und träumte davon, wie schön das Leben doch sein könnte, wenn wir nur einen Fernseher hätten. Aber es reichte bei uns ja nicht einmal zu einem richtigen Kartenspiel! Also begann mein Abstieg zum Stubenhocker.




KAFFEETRINKEN

Am Sonntag feierte die Sippe das „Kaffeetrinken“. Dieses fand statt im Stammhaus der Sippe, nämlich im kleinen Dorf bei der kleinen Stadt. Die Teilnehmer waren: Städter, Bauern, Onkels und Kinder. Nach dem Kaffeetrinken ging jede Gruppe ihre eigenen Wege. Die Städter gingen spazieren, die Bauern verdunkelten die Stube und machten den Fernseher an, die Onkels gingen zum Kartenspielen in die Wirtschaft, und die Kinder durften das machen, was ihre Eltern machten. Ich durfte immer spazieren gehen! Auf diesen Spaziergängen habe ich von Vati und Mutti viel fürs Leben gelernt: Bei schönem Wetter sitzt man nicht in der Stube und guckt fern, das machen nur Bauern! Bei schönem Wetter geht man nicht ins Gasthaus und spielt Karten, das machen nur Onkels! Bei schönem Wetter geht man spazieren, so wie wir das machen, denn wir machen immer alles richtig! Natürlich war ich froh, zu denen zu gehören, die immer alles richtig machten, aber der arme Onkel Leo saß in der Wirtschaft, spielte Karten, und wußte gar nicht, daß er alles falsch machte. Da mußte ich einschreiten!




WIRTSCHAFTHOCKEN UND KARTENSPIELEN

Nur selten gelangen mir Einblicke in das geheimnisvolle Treiben der Onkels im Dorfgasthaus. Angeblich taten sie dort üble Dinge: Sie soffen und rauchten und spielten Karten. Es war ein besonders heißer Sommertag, an dem ich heimlich nach dem Genuß von reichlich Sahnetorte vom Kaffeetisch in den benachbarten „Löwen“ schlich, geplagt von entsetzlicher Neugierde. Die Onkels guckten mich perplex an und meinten, ich solle mich wieder schleichen. Aber ich war bockig und bestand darauf, mitspielen zu dürfen. In der Gaststube war es angenehm kühl, und ich verspürte nicht die geringste Lust, bei sengender Hitze den drohenden Spaziergang anzutreten. So nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte feierlich: „Entweder ihr geht mit spazieren, oder ich bleibe hier und spiele mit.“ Diese Drohung machte offensichtlich Eindruck. Die Onkels bestellten mir ein Malzbier, und ich durfte Onkel Leo in die Karten gucken, ja ich durfte sogar manche Karte lautstark auf den Tisch knallen und „Trumpf“ rufen. Das war ja ein ganz tolles Spiel, bei dem die Onkels und ich immer fröhlicher wurden, und ich war ganz toll stolz auf mich, denn ich durfte mehrmals „noch ne Runde“ brüllen. Irgenwann stand mein Vater in der Tür, und die Onkels verloren schlagartig ihre Fröhlichkeit. Draußen in der Sonnenhitze wurde mir dann schlecht, und bis heute vermeide ich tunlichst die Kombination von Sahnetorte, Malzbier und Hitze. Ich hätte damals halt in der Stube hocken bleiben sollen.




ALLEIN BEI ONKEL LEO

„Laßt den Burschen doch einfach hier und holt ihn nachher wieder ab“, dröhnte Onkel Leos Baß. Drei Augenpaare begannen hoffnungsvoll zu leuchten, nämlich die von Mutti, Vati und Sohnemann. Nach vielen Entschuldigungen, daß sie ja bald wiederkämen, und vielen Ermahnungen, daß ich ja bloß brav sein solle, zogen sie endlich ab, und ich war mit Onkel Leo allein. Ein bißchen gruselig war mir schon zumute, zumal die Wohnung ganz anders aussah als unsere Wohnung und außerdem noch sehr viel anderser roch. Onkel Leo nahm einen kräftigen Schluck aus einer Flasche und gab sie dann mir mit den Worten: „Na du lütter Bayer, willste auch 'n Apfelsaft?“ Ich spuckte das Zeug sofort wieder aus, denn es brannte höllisch. Er lachte und gab mir Coca-Cola zum Nachspülen. Dann sagte er: „So, wir Bayern müssen jetzt erst mal eine gute Zigarre rauchen“, und meinte, ich solle mir eine aussuchen. Und wieder begann er dröhnend zu lachen. Ich dagegen fing an zu heulen und wütend sagte ich ihm, daß ich alles von ihm wüßte und daß ich niemals so werden wolle wie er und daß ich ihn retten wolle, weil er alles so falsch mache, und statt mit den Sozialokraten in der Wirtschaft zu sitzen, solle er lieber mit Papi und Mami und mir spazierengehen, und überhaupt, daß ich richtige Karten haben wolle und nicht so doofe Figuren, und und und .... Irgendwann fiel mir nichts mehr ein, ich sah Onkel Leo an und erwartete ein Donnerwetter, denn das war ich von zu Hause so gewohnt. Onkel Leo dagegen trank weiter seinen scharfen Apfelsaft und sagte lachend: „Ja ja, ihr habt das schon schwer mit eurem Saupreissn!“

Daraufhin breitete er alle seine geheimnisvollen Karten auf dem Tisch aus, und ich durfte sie mir alle genau angucken. „Ich würde sie Dir ja gerne schenken“, meinte er dann, „aber wenn das dein Vater mitkriegt, dann haben wir beide ein Problem“. Dabei richtete er sich auf wie ein großer Bär, fletschte die Zähne und brummte furchteinflößend: „Denn das Kartenspiel ist des Teufels.“ Dann ließ er sich mit riesigem Krach wieder lachend auf das Sofa zurückplumpsen und sagte: „Deshalb spielen wir jetzt Schach, denn Schach ist ein königliches Spiel, und gerade ihr Bayern seid doch immer noch so stolz auf euren König, da werden deine Eltern sicherlich nichts dagegen haben.“

Ich habe keine Ahnung mehr, wie lange er dauerte, mein erster richtiger Ausflug auf den 64 schwarzen und weißen Feldern, aber ich weiß noch, daß er sehr kurzweilig war, daß ich Coca-Cola trinken durfte und daß ich von da an Onkel Leo furchtbar mochte. Das war doch alles viel spannender als die langweiligen Spaziergänge mit meinen Eltern. Als sie zurück kamen, riß Mutter entsetzt alle Fenster auf und sagte in wenig liebenswürdigem Ton: „Mei Leo, isch des alls verqualmt hier, hätsch mit dem Bua id amol naus ganga könna, des isch doch koi Schtubahocker so wie du, der Bua brauch doch a frische Luft!“

Auf dem darauf folgenden Abendspaziergang hatte ich nur zwei Gedanken: Wie springt der Springer nochmal, und wie schaffe ich es, bald wieder in Onkel Leos Stube hocken zu können?




DES ALLGÄUS FRISCHE BERGLUFT

Am Wochenende ging es immer in die Berge. War ja nicht weit. Was gibt es Schöneres für einen kleinen Allgäuer, als gemeinsam mit seinen Eltern seine Heimat lieben zu lernen. Nach furchtbarer Schinderei auf dem Gipfel angekommen, gab es für meine Eltern lebenswichtige Fragen zu lösen: Welcher Berg des traumhaften Panoramas heißt wie?: „Noi, des isch id die Höfats, die müßt weitr links liega – aber dann müßt des ja – ja dr Hochvogel – moinsch – odr d'Mädalegabel – des isch auf jeda Fall dr Hohe Ifen ... – ... "

Aber auch für mich gab es lebenswichtige Fragen zu lösen: „Papa, gemma bald wieder, mir isch langweilig und die Berg schauat doch alle gleich aus.“ Vater gab sich alle Mühe, mir zu erklären, daß jeder Berg seinen eigenen Charakter habe, aber ich antwortete mit einer Gegenfrage: „Papa, warum ham mir eigentlich koin Fernseher, dann könntat mir jetzt gmütlich dahoim in dr Stuba hocka und des werat net so langweilig wie hier in de Berg.“

Zugegeben, ich war ein unpädagogisches Kind. Und Vater war nicht bereit, mit seinem unpädagogischen Sohn zu diskutieren, sondern machte ihm patriarchalisch klar, daß es nichts Schöneres gebe auf dieser Welt als die Allgäuer Alpen! Basta! Und so ging es am Wochenende weiter in die Berge. Aber nun hatte ich auf den verhaßten Bergbesteigungen ein Pflaster mit, und das hieß: Leitfaden des Schachspiels. Damit konnte man auf dem Gipfel sitzend die Langeweile überbrücken. Vater war wütend und grollte: „Man steigt nicht auf einen Gipfel, um dort oben in dieser herrlichen Umgebung zu lesen.“ Ich antwortete: „I tät ja au lieber dahoim in der Stube lesen, so wie dr Onkel Leo.“ Für den Rest des Tages war die Stimmung der Familie im Eimer, und ich war schuld.




STUBENHOCKEN UND KLAVIERSPIELEN

Im Alter von etwa zwölf hörten meine Zwangsausflüge in die Alpen auf, und ich habe seitdem Gott sei Dank nie mehr einen Alp besteigen müssen. Der Grund dafür war folgender: Seit einiger Zeit hatte ich Klavierunterricht, aber ich war faul und übte nicht. So weit etwas ganz normales. Aber mir war irgendwie auch klar, daß der Klavierunterricht Geld kostete und daß wir wenig Geld hatten. Mutter und Vater liebten die Musik, und das Geld wäre an anderer Stelle sicher dringender gebraucht worden, als verschwendet zu werden für einen faulen Sohnemann. Also traf ich recht halbherzig folgendene Verabredung: Ich übe Klavier, aber dafür muß ich nicht mehr mit zum Bergsteigen. Dieser Deal wurde ein unerwarteter Erfolg. Ich begann wirklich das Klavierspielen zu lieben, übte freiwillig, mußte nicht mehr Bergsteigen, und während meine Eltern in ihren Sch ... Alpen rumkreuchten, saß ich bei Onkel Leo in der Stube, spielte Schach, schnupperte Tabakqualm und trank verbotene Cola. Wunderbar!




STUBENHOCKEN UND FERNSEHGUCKEN

Ich weiß zwar nicht mehr, wann wir einen Fernseher kriegten, aber inzwischen hatte sich das Fernseh-Problem von selbst gelöst. Ein paar Häuser weiter wohnte nämlich ein Klassenkamerad namens Paul. Seine Eltern waren sogenannte „Geschäftsleute“, und da die immer im Geschäft waren, war der arme Paul viel alleine und kam gerne zu uns, und wir machten gemeinsam Hausaufgaben. Mutter machte Kakao, es gab Kuchen, ja mitunter blieb der arme Junge gar zum Abendessen, da sich seine Rabeneltern ja so gar nicht um ihn kümmerten. Aber nun hatte Mutter ja auch noch meine kleine Schwester zu versorgen, und manchmal wurden ihr die beiden Rabauken wohl auch zu viel. So ergab es sich bisweilen, daß ich bei Paul meine Hausaufgaben machen durfte. Wir waren schnell damit fertig, denn es lockte ein wunderbares Ritual: Runter mit den Jalousien und dann den Fernseher angestellt und Stube gehockt. Paul meinte zwar, daß das Programm nach acht Uhr abends bedeutend besser sei, aber das konnte ich leider nicht nachprüfen, denn Punkt sechs gab es bei uns zu Hause Abendessen. Dennoch konnte er unheimlich spannend von Krimis erzählen, die nach acht Uhr gesendet wurden, und ich habe ihn grenzenlos beneidet. Noch heute muß ich daran denken, wenn ich jeden Sonntag Abend um 20:15 meine Hütte verdunkle und dem neuen, stets irrsinnig spannenden „Tatort“ entgegen fiebere, und niemand mir das Stubenhocken streitig macht.




DAS AUSHÄUSIGE STUBENHOCKEN

Das aushäusige Stubenhocken betrifft ausschließlich Männer. Entweder junge Männer, die noch zu Hause wohnen, oder erwachsene Männer, die ebenfalls zu Hause wohnen, aber dort verheiratet sind. Es findet statt in abgedunkelten Stuben, die völlig zu recht Gaststuben genannt werden, und es ist weit verbreitet. Da ruft nicht der Berg, da ruft nicht die Gattin zum Spaziergang, da interessiert sich niemand für das ach so schöne Wetter, da wird kein Familienurlaub nach Mallorca geplant, da dürfen die Rollos heruntergelassen werden gegen das aggressive Sonnenlicht – kurz: hier läßt es sich im Kreise Gleichgesinnter gemütlich hocken! Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Gaststuben kann gar nicht hoch genug geschätzt werden! Auch der Autor dieser Zeilen hielt sich früher sehr gerne in solch heimeligen Gaststuben auf. Aber das ist lange her, denn inzwischen ist er zum echten Hardcore-Stubenhocker geworden, also zu einem, der die eigene Stube nur noch dann verläßt, wenn es sich absolut nicht mehr vermeiden läßt.




DAS KARTENSPIEL

In der Kunst des Kartenspiels habe ich es übrigens nie sehr weit gebracht. Viel zu spät, erst als Student in Preußen lernte ich Skat und Doppelkopf und bei Heimataufenthalten das bayerische Pendant Schafkopf. Zwar machte mir das Kartenspielen durchaus großen Spaß, weniger jedoch meinen Mitspielern. Nun gut, daß man eine blanke Zehn nicht ausspielt, begriff ich ja irgendwann, und daß man die wertvollen Trümpfe nicht bis zum Schluß aufhebt, begriff ich auch irgendwann, und es gäbe noch manches zu berichten, was ich irgendwann begriffen hatte. Aber eines habe ich nie kapiert: Wie kann es sein, daß ein Kartenspieler zwar kaum noch auf's Klo und zurück findet, aber genau weiß, wer im dritten Stich die Karo Sieben geworfen hat und wer im fünften Stich die Kreuz Neun. Das sind rätselhafte Gedächtnisleistungen, die ich heute vielleicht auch erbringen könnte, wäre ich als Kind weniger spazieren gegangen, sondern mehr mit den Onkels in der kühlen Stube des „Löwen“ gehockt. Um aber vor meinen längst verstorbenen Onkels nicht als Versager dazustehen, möchte ich ihnen noch sagen: Beim Pokern holte ich meine beim Skat stets eingefahrenen Verluste locker mehrfach wieder rein. Ich tat das, was ich besonders gut kann, nämlich dumm gucken, und wurde ein fast berüchtigter Poker-Spieler mit dem Spitznamen „Schielface“. Aber lieber Onkel Leo: pssst – verpetz mich nicht bei Vati, denn Du weißt ja: Das Kartenspiel ist des Teufels. So, jetzt hocke ich noch ein bißchen Stube und grüße Dich mit einem scharfen Schluck Apfelsaft. Tschüss.




STATT EINES NACHWORTS

Wie schon anfangs gesagt: Der Stubenhocker tut höchstens einer Fliege etwas zuleide, denn eine Fliege kann das entspannte Stubenhocken empfindlich stören. Ansonsten ist er ein äußerst nützliches Mitglied der Gesellschaft! Er klingelt nicht an fremden Wohnungstüren, um vom baldigen Weltuntergang zu verkünden, er schont die Umwelt, indem er das schwachsinnige Urlauben läßt, er nervt niemanden durch penetrante Anwesenheit, und was er in der virtuellen Welt des Webs von sich gibt, muß ja niemand anklicken. Man mag zu recht einwenden, daß er nichts zum Wirtschaftswachstum beiträgt, da er das Einkaufen haßt, denn dazu müßte er ja seine geliebte Stube verlassen. Andererseits verfettet er ja rechtzeitig genug in seiner Stube und eröffnet damit den Sozialkassen eine gewisse Wahrscheinlichkeit, durch sein rechtzeitiges Ableben der Solidargemeinschaft nicht jahrzehntelang als Rentner zur Last zu fallen. Nicht zuletzt deshalb hat er es wirklich nicht verdient, als Schimpfwort sein Leben zu fristen. So hoffe ich denn, in dieser soziologischen Schrift ein klein wenig zu seiner Rehabilitierung beigetragen zu haben!



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